Merksätze: Verwendet der öffentliche Auftraggeber in einem offenen Vergabeverfahren eine Wertungsmatrix, die eine qualitative Mindestpunktzahl vorsieht und schließt er auf deren Grundlage einen Bieter, der die Mindestpunktzahl nicht erreicht, vom weiteren Verfahren aus, verstößt dies nicht gegen europäisches Vergaberecht.
Entscheidung:
Im Fall des EuGH „Montte“ (Urteil vom 20. September 2018, Rs. C-546/16 – Montte) schrieb der öffentliche Auftraggeber in einem offenen Verfahren EU-weit unter anderem Möbel, Musikinstrumente und Audiotechnik aus. Unter anderem sahen die Zuschlagskriterien mit jeweils 50 Punkten als qualitative Kriterien die „Darstellung und Beschreibung des Projekts“ und die „höchste Preisminderung gegenüber dem Auftragswert“ vor. Von diesen Zuschlagskriterien musste der Auftragnehmer für das technische Angebot mindestens 35 Punkte erreichen. Angebote, die diese Mindestpunktzahl verfehlten, gelangten nicht in die abschließende Wertung.
Ein Bieter stellte einen Nachprüfungsantrag, da er der Auffassung war, dass in einem offenen Verfahren eine gestufte Wertung – anders als zum Beispiel im Verhandlungsverfahren – nicht vorgesehen sei. Die angerufene Vergabekammer legte dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV vor, ob die Richtlinie 2014/24 EU einer Rechtsvorschrift oder Auslegungs- und Anwendungspraxis entgegen steht, in einem offenen Verfahren Zuschlagskriterien für auf aneinander folgende Phasen festzulegen, bei denen Angebote ausgeschlossen werden, die eine vorabfestgelegte Mindestpunktzahl nicht erreichten.
Dass auch eine Vergabekammer – obwohl nicht Gericht, sondern formal Teil der Verwaltung – nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt in einem Vorabentscheidungsverfahren ist, ist seit langem anerkannt (siehe Beitrag im SCHULTEblog; seit EuGH „Dorsch Consult“ Rs. 54/96, EuZW 1997, 625)
Der EuGH stellt klar, dass jeder am Auftrag Interessierte ein Angebot abgeben könne, jedoch die Richtlinie 2014/24 EU öffentlichen Auftraggebern auch nicht verbiete, Mindestanforderungen für die Bewertung technischer Zuschlagskriterien im offenen Verfahren festzulegen. Denn Art. 27 der Richtlinie 2014/24/EU enthalte abgesehen von Mindestfristen keine weiteren Vorschriften über den Ablauf des offenen Verfahrens. Einzuhalten seien für die Festlegung der Zuschlagskriterien zwar die generellen Anforderungen des Art. 67 (Zuschlagskriterien) sowie die Grundsätze der Transparenz, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung als übergeordnete Verfahrensgrundsätze, um einen objektiven Vergleich des relativen Wertes von Angeboten und wirksamen Wettbewerbs sicherzustellen. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist dabei besonders zu berücksichtigen.
Damit sei nach Auffassung des EuGH jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Auftraggeber Mindestpunktzahlen in einer Wertungsmatrix festlegen könne: Es könne nämlich nicht in einem Umkehrschluss daraus geschlossen werden, dass in anderen Verfahren, wie beim Verhandlungsverfahren (Art. 29 Abs. 6), wettbewerblichen Dialog (Art. 30 Abs. 4) und bei der Innovationspartnerschaft (Art. 31 Abs. 5) das Verfahren in aufeinanderfolgende Phasen durchzuführen ist: Anders als in diesen drei Verfahren könne im offenen Verfahren nur ein solches Angebot ausgeschlossen werden, dass die Mindestpunktzahlen nicht erreicht, während in den anderen Verfahren auch Angebote „auf der Strecke“ bleiben können, die zwar ordnungsgemäß und vollständig die Vergabebedingungen erfüllen, aber eben nicht zu den Angeboten zählen, die das wirtschaftlichste Angebot am wahrscheinlichsten erwarten lassen. Ein öffentlicher Auftraggeber sei bei einem offenen Verfahren auch nicht gezwungen, den Zuschlag zu erteilen; selbst wenn nach der technischen Bewertung nur ein einziges zu berücksichtigen eines Angebots übrig bleibt, kann der öffentliche Auftraggeber angesichts des Auftragsgegenstandes und der -merkmale den Wettbewerb für zu unzureichend halten und das offene Verfahren beenden, gegebenenfalls ein neues Verfahren mit anderen Zuschlagskriterien einleiten.
Hinweise:
Die Entscheidung des EuGH überzeugt im Ergebnis und entspricht der Entscheidungspraxis deutscher Spruchkörper (s. VK-Bund, Beschluss vom 16.04.2018, VK 1 – 21/18).
Ein gestuftes Vorgehen anhand von Mindestpunktzahlen ist nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Es ist vom Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers gedeckt und entspricht der Praxis im alltäglichen Beschaffungsgeschäft.
Dennoch sind Mindestpunktzahlen in einer Wertungsmatrix kein Instrument, dass zu sorglos gehandhabt werden sollte. Der EuGH betont die Grundsätze von Transparenz, Gleichbehandlung und insbesondere Verhältnismäßigkeit. Die Mindestpunktzahlen dürfen daher zum einen nicht so hoch gesetzt werden, dass damit bereits eine Vorauswahl verbunden ist, womöglich nur ein einziger Bieter verbleibt, der die vorgegebenen Mindestpunktzahlen erreichen kann. Sind hingegen die Mindestpunktzahlen zu niedrig angesetzt, verfehlen sie die Verfahren steuernde und verschlankende Wirkung und signalisieren zudem eine gewisse Marktferne des Auftraggebers, was ungewünschte Nebeneffekte auf den Umgang der Bieter bei der Angebotslegung mit Blick auf die anderen Zuschlagskriterien hervorrufen könnte.
Christoph Just LL.M. ist Partner unserer Sozietät in Frankfurt am Main und Fachanwalt für Steuer- und Verwaltungsrecht. Seine Praxis fokussiert sich auf Prozessführung (staatliche und Schiedsgerichtsbarkeit) wie auch auf regulatory (Umwelt, Energie, Vergabe).